Texte

Herausgeberschaften:


- (gemeinsam mit Eva Maria Houben): Antoine Beuger - Werkanalysen und Hintergründe, Edition Howeg, Zürich 2013


- (gemeinsam mit Eva Maria Houben): MusikDenken - Texte der Wandelweiser-Komponisten, 

Edition Howeg, Zürich 2008



Aufsätze:


- Zellular - ce qui passe für flöte im Kunstbunker München (Mai 2004), in: Eva-Maria Houben, Burkhard Schlothauer (Hrsg.), Antoine Beuger - Werkanalysen und Hintergründe, Edition Howeg, Zürich 2013, S.57-65.


- Langzeitwerke: Musik-Zeit-Leben-Raum, in: Eva-Maria Houben, Burkhard Schlothauer (Hrsg.), Antoine Beuger - Werkanalysen und Hintergründe, Edition Howeg, Zürich 2013, S.86-104, (stark erweiterte Fassung des Artikels: Wenn Zeit zur wichtigsten Kategorie wird ... - Neue Präsentationsformen im Kunstraum Düsseldorf, in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik, Nr.66 Performance und Ritual / Februar 2006, S.41-43).


- Auf der Suche nach der Mannigfaltigkeit der Klänge - Die Kompositionsserie "Imaginary Landscape No.1-5" (1939 - 1952) von John Cage in: Claudia Tittel (Hrsg.), Imaginary Landscape. Hommage an John Cage, Ausstellungskatalog Kunstverein Gera e.V., Jena 2012, S.24-36.


- Abstrakte Musik, in: Eva-Maria Houben, Burkhard Schlothauer (Hrsg.), MusikDenken - Texte der Wandelweiser-Komponisten, Edition Howeg, Zürich 2008, S.34-49.


- Vom 'Schön-Finden'!, in: Eva-Maria Houben, Burkhard Schlothauer (Hrsg.), MusikDenken - Texte der Wandelweiser-Komponisten, Edition Howeg, Zürich 2008, S.79-95, (Erstveröffentlichung in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik, Nr. 64 Schönheit / August 2005, S.21-24).


- Was ist Musik? Einige Definitionsversuche, in: Eva-Maria Houben, Burkhard Schlothauer (Hrsg.), MusikDenken - Texte der Wandelweiser-Komponisten, Edition Howeg, Zürich 2008, S.122-128.


- Fühlbare Musik - Gedanken zu einem neuen Expressivitätsbegriff, in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik, Nr. 73 Expressivität / November 2007, S. 13-16.


- Reduktion - Statement, in: Peter Niklas Wilson, reduktion - zur aktualität einer musikalischen strategie, Schott, Mainz 2003, S.116-120.


- Zur Funktion zeitgemäßer Kunst, in: KunstMusik - Schriften zur Musik als Kunst,Heft 1, August 2003, S.41-47.


- Die Vergeblichkeit der Antwort (Offener Brief), in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik, Nr. 42 /2000, S. 46-48



CD-Booklets:


- John Cages FOUR6, FIVE und Hymkus, in: John Cage, Zeitkratzer, zkr 0009, 2010


- James Tenneys Critical Band, Harmonium#2,Koan: Having Never Written A Note For Percussion, in: James Tenney, Zeitkratzer, zkr 0010, 2010.


- Komponieren für Klavier, in: PianoMusic, EWR 0105, 1998.


- Seven änd Similar Events, in Cage . Schlothauer,EWR 0604, 2006.


- Different Series of Compositions, in Burkhard Schlothauer - ChamberEvents, EWR 0502, 2005.



Texte Auswahl /Texts Selection


Etwas über Wandelweiser –

Vorbemerkung zu den Programmnotizen zum

2. Wandelweiserfestival 2002 in Berlin

 

Oberflächlich betrachtet mögen sich viele Stücke der Wandelweiser-Komponisten ähneln - sie sind häufig sehr leise, die Stille hat einen großen Anteil an der Dauer der meisten Stücke, es gibt keine Dramaturgie und keine Entwicklung, kaum Kontraste. Die Auswahl des Klangmaterials ist immer sehr klar und eindeutig und meist wird mit Material sparsam umgegangen. Viele Phänomene, die im traditionellen Sinne Musik ausmachen, spielen in der Wandelweiser-Musik nur eine untergeordnete oder überhaupt keine Rolle: Harmonie,

Rhythmus und Melodie.

 

John Cage hat in den Jahren nach 1938 eine Kompositionsmethode der Zeitstrukturen entwickelt, die er bis zu seinem Lebensende weiterverfolgte.

Cage war damals Lehrer an der Cornish School und leitete ein Percussion-Ensemble. Er komponierte viele Stücke für dieses Ensemble, einige Jahre lang schrieb er beinahe ausschließlich Percussion-Musik. Das Komponieren in rhythmischen Strukturen ergab sich aus der Natur der Percussionklänge, mit denen er arbeitete. Viele dieser Klänge haben keine klare Tonhöhe: es ist folglich nicht möglich musikalische Struktur auf Grund von tonhöhenabhängigen Parametern wie Harmonie oder Melodie zu entwickeln.

Cage stellte außerdem fest, dass Percussionklängen eine Autonomie der Dauer zu eigen ist. Keine menschliche Kraft kann den Sound, zum Beispiel eines Woodblocks, länger dauern lassen, als er von Natur aus dauert. Diese dem Percussionklang immanente Dauer schien Cage das entscheidende Merkmal dieser Instrumente zu sein. Daraus entwickelte sich der Gedanke, dass die Dauer die Basis für die Struktur seiner Percussionmusik sein sollte. In den folgenden Jahren hat Cage dieses Denken auf alle seine Kompositionen übertragen, und es auch beibehalten, als er keine Stücke für Percussion–Ensemble mehr schrieb.

 

Cage vertritt in seinem Vortrag „Defense of Satie“ von 1948 (und an anderer Stelle) die Meinung, dass Struktur, die auf Dauern beruht, die einzig mögliche und richtige Struktur für Musik sein könne. Dauer ist der einzige Aspekt, den Klang und Stille gemeinsam haben. „Es kann kein richtiges Machen von Musik geben, das sich nicht aus den wirklichen Wurzeln von Klang und Stille strukturiert – aus den Längen der Zeit“.

Dieses Komponieren mit Dauern, das Entwickeln und Entstehen-Lassen von musikalischer Struktur durch Dauern scheint mir ein verbindendes Merkmal der Wandelweiser Komponisten zu sein.

 

Ein Zitat von John Cage aus „A Composer´s Confessions“ von 1939 scheint mir etwas auszusagen, das ich in vielen Stücken von Wandelweiser finde:

Meine ästhetische Haltung hat nichts mit dem Verlangen nach Selbst-Ausdruck zu tun, sondern ganz einfach mit der Organisation von Material. Ich bemerkte, dass es unvermeidlicherweise zwei Arten von Ausdruck gab: denjenigen der aus der Persönlichkeit des Komponisten entsteht und denjenigen der aus der Natur und dem Zusammenhang des Materials entsteht. Ich empfand den Ausdruck als stärker und feiner, wenn ich mich nicht darum bemühte, Ausdruck bewusst zu erzeugen, sondern ihm ermöglichte auf natürliche Weise zu entstehen.

 

Seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts ist in der neuen Musik viel über das Thema Determination/Unbestimmtheit, willensgesteuertes Tonsetzen/Einsatz von Zufallsoperationen für kompositorische Entscheidungen diskutiert worden.

Bei den Vorbereitungen für dieses Festival fiel mir auf, dass die vorliegenden Kompositionen auf ausgesprochen unterschiedliche Weise den Zufall einbeziehen und ihr Determinationsgrad differiert. Manche Stücke sind vollkommen ausnotiert und beschreiben sehr genau klangliche Abläufe, andere beschreiben auszuführende Aktionen, aus denen sich immer wieder andere Klänge ergeben. Da sich dieser Aspekt im Gegensatz zu den meisten anderen Aspekten dieser Musikstücke nicht sinnlich und direkt erschließen lässt, habe ich den Text darauf fokussiert.

 

Bei oberflächlicher Betrachtung könnte jemand zu der Ansicht gelangen, dass sich viele Stücke der Wandelweiser Komponisten ähneln. Doch wenn man bereit ist sich ihnen anzunähern, das Fremdartige, grundsätzlich Andersartige zu akzeptieren, stellt man fest, dass die Unterschiede zwischen den Stücken groß sind, dass zwischen den verschiedenen Positionen Welten liegen.

                                                                                                                         


ab tasten / three pianos drumming

(booklet Text zur CD EWR 0105)

Zu Beginn meiner kompositorischen Arbeit war ich konventionell erzeugten Klavierklängen gegenüber mißtrauisch. Das Klavier war für mich der Inbegriff der diatonisch / chromatischen Tradition und ich interessierte mich mehr dafür, den Tonraum unsystematisch und systematisch mikrotonal zu erweitern - bis zur theoretisch unendlichen Menge von Tonhöhen.

Außerdem gibt es für den "tastendrückenden" Klavierspieler nach erfolgtem Anschlag nur eine Möglichkeit, den erzeugten Klang gezielt zu verändern - durch Einsetzen der Dämpfung. Dieser "Mangel" an Einflußmöglichkeiten auf den Klang und die oben genannte "Tonhöhenfixierung", hatte mich in meinen früheren Stücken dazu veranlaßt, das Klavier nicht als Tasteninstrument zu benutzen - es wurde in den "ab tasten" vorausgehenden Duo-Stücken (mit Blasinstrumenten bzw. Schlagzeug) direkt auf den Saiten bearbeitet , gestrichen und gezupft, der Anschlag der "Tasten-Hammer-Mechanik" auf die "naturale" Saite bildete die Ausnahme. Die Dämpfung war bei diesen Stücken das ganze Stück über von den Saiten abgehoben, im Klavier "resonierte" das gesamte musikalische Geschehen. Insofern war es für mich neu, den Vorgang des Dämpfens, der Energieentzug und Transformation des Tones gleichermaßen beinhaltet, in meine kompositorischen Überlegungen mit einzubeziehen. Durch meine Arbeit mit dem ungedämpften Klavier war mir bewußt geworden, dass das Klavier als ein hochentwickeltes Produkt des Instrumentenbaus eine besondere Eigenschaft hat:

Es kann die zugeführte minimale Energie (der Finger schlägt über eine hoch sensible Mechanik einen befilzten Holzhammer auf die Saite) sehr effizient verwerten, verstärken und erhalten. Die Ausschwingzeit, vor allem der tiefen Saiten ist sehr lang - keinem anderen unverstärkten Saiteninstrument vergleichbar.

Aufgrund der Faszination, die das ungedämpfte Ausklingen des Klavierklangs auf mich ausübte, machte ich das Ausschwingen der Saiten zum "Gegenstand" von "ab tasten". In jedem Klang dieses Stückes klingt mindestens eine Saite ungedämpft aus.

In den Stücken vor "ab tasten" hatte ich versucht, die Zeitabläufe des Stückes exakt zu determinieren und hierfür die Verwendung einer Stoppuhr vorgeschrieben. Doch dieses Konzept überzeugte mich weder in seinen Ergebnissen, noch schätzte ich selbst als Ausführender das zu Hilfe nehmen der Uhr. Mir schien Zeit nicht in ihrer "messbaren" Ausdehnung interessant, sondern in ihrer wahrgenommenen. Ich hatte den Eindruck, daß das Messen von Zeit mit Hilfe einer Maschine vom Erleben von Zeit ablenke. Mir schien die Maschinenzeit ein schwerwiegender Irrtum, die Uhr als ein Symbol für die Gleichschaltung und Unterwerfung des Biorhythmus des Einzelorganismus unter industriell-kapitalistische Zielsetzungen.

So entschied ich mich eine Gegebenheit, die unterschiedliche Dauer des Ausklingens - um so höher der Ton, desto kürzer die Klingzeit - zur Grundlage der zeitlichen Organisation zu machen. Die jeweilige ausklingende Saite bestimmt die Gesamtdauer des Klanges und damit den zeitlichen Ablauf der auskomponierten "Dämpfungstätigkeiten".

Dass jedem Klang eine Pause - möglichst gleichen Gewichtes - folgt, ist ein formales Konzept, dass ich seit 1995 in vielen meiner Kompositionen angewendet habe. Jeder Klang steht für sich, ist in sich ein eigenes "Stück" Musik, ein autonomes "Bild", Individuum, dass in seiner Erscheinung vom Erklingen bis zum Verstummen wahrgenommen werden kann. Die Reihenfolge der Klänge kann von den Musikern selbst gewählt werden.

In "ab tasten" entdeckte ich mein Interesse für den Moment, in dem der Klang verstummt, verklingt. Ich bemerkte, dass sich irgendwann nicht mehr feststellen lässt, ob die Saiten noch hörbar schwingen, oder ob nur noch das Abbild des Klanges im Gehirn existiert. Ein Klang hat einen Anfang, ein Bestehen und ein Ende. Diese Teile sind nicht klar von einander abzugrenzen, es ist uns unmöglich zu sagen, wo der Anfang ist, wo der Anfang in das Bestehen, das Bestehen in das Ende übergeht, wo das Ende ist.

 

In "three pianos drumming" von 1999, dass ich für PianoInsideOut (Reinhold Friedl, Michael Iber, Yunkyung Lee) komponierte, wird das Klavier dagegen als reines Schlaginstrument eingesetzt. In 3 großen Steinway D-Flügeln des SFB wurde jeweils die gleiche Baßsaite mit Klebeband abgeklebt und damit nachhaltig gedämpft. Durch diese Behandlung wird das Hämmern des Klaviers deutlich hörbar gemacht. Das Klavier wird als das genutzt, was es der Klangerzeugung nach ist - ein "Hammerwerk".

Beim Hören von überlieferten Musikaufnahmen der noch existierenden Jäger- und Sammlerkulturen, habe ich immer wieder Rhythmen gehört, die reiner Puls waren. Diese Musiken - egal aus welcher Region der Erde - verzichten auf jede bewußte Akzentuierung und Unterteilung der rhythmischen Einheiten. Mir schien dies eine Urform des Rhythmus, eine Art Keimzelle jeder rhythmischer Musik, in der die hypnotische Kraft dieser ersten von Menschen geschaffenen Zeitgestalten fühlbar wird.

Ich hatte schon in "Findling 613" Versuche mit "Elementar-Rhythmik" angestellt. Allerdings hatte ich hier die Pulsketten durch verschiedene Anschlagarten und Akzente gegliedert und Ketten mit verschiedenen, stark unterschiedlichen Tempi und Lautstärken aufeinander folgen lassen.

In "three pianos drumming" bleiben die von den Ausführenden aus einer vorgegebenen Bandbreite zu wählenden Parameter (Lautstärke, Tempo, Tonhöhe) das ganze Stück über gleich.

Jede Stimme hat eine eigene Anordnung von Schlägen und Pausen, so dass sich zwischen den Klavieren sehr feine Räume und Mikrorhythmen ergeben.

An diesem Stück und seinem Nachfolger "drumming für ein bis viele Schlagzeuger" fasziniert mich, dass es das gleiche Stück bleibt, egal ob pianissimo oder forte gespielt, egal welches Tempo zwischen 30 b.p.m. und 120 b.p.m., welche Seitenfolge die Spieler wählen. Verschiedene Fassungen haben sehr verschiedene "Ausdruckswertigkeiten". Mir schien es für meine Entwicklung sehr bedeutsam, ein Stück komponiert zu haben, dass starken Ausdruck ermöglichte, ohne dass ich als Komponist es mit Ausdruckwert versehen hatte.


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Burkhard Schlothauer

ab tasten / three pianos drumming

 

As a result of the fascination the unmuted decay of the piano sound held for me, the fading string vibration became the focus of "ab tasten". In each sound of this piece at least one tone fades away unmuted.

I also decided to take a given fact (the different fading times: the higher a tone, the shorter it sounds) to form the basis of the music’s temporal organisation. The respective unmuted string determines the overall duration of the sound and as a result, the timing of the composed "muting activities".

Having each sound followed by a pause of possibly equal weight is a formal concept I have used in many of my compositions since1995. Each sound stands alone, is a "piece" of music in its own right, an autonomous "image", an individual, that may be perceived in its entire appearance from sounding to dying away. The order of the sounds may be chosen by the musicians themselves.

In "ab tasten" I discovered my interest for the moment the sound falls silent, dies away. I noticed, that at some point it is not longer possible to asses whether the strings are still vibrating audibly, or whether it is only the image of the sound which is still in the mind.

A sound has a beginning, an existence and an end. These parts, though, cannot be clearly divided: we cannot really say where the beginning is, where beginning turns into continuity, where continuity becomes an ending, where the end is.

In "three pianos drumming" from 1999, which I wrote for PianoInsideOut (Reinhold Friedl, Michael Iber, Yunkyung Lee), on the other hand, the piano is used only as a percussion instrument. In three of the Steinway D grand pianos of Sender Freies Berlin the same bass string was taped with adhesive tape, strongly and lastingly muting the string. By this treatment the hammer beating of the piano becomes clearly audible. The piano is treated as what it is in terms of its sound production: as a "hammering machine".

Hearing recordings of still existing hunter and gatherer cultures, I kept hearing rhythms which were pure pulse. These musics – no matter from which region of the earth – refrain from any conscious accentuation or division of rhythmic units. To me, this seemed to be an archetype of rhythm, some sort of nucleus to every rhythmic music, in which the hypnotic power of these first man made time forms makes itself felt.

In "three pianos drumming" the performers determine a set of parameters (dynamics, tempo, pitch) within a given range and stick to these for the entire piece.

Each part has its own sequence of beats and pauses, allowing for the emergence of very subtle spaces and microrhythms between the pianos.

What fascinates me about this piece (and also its successor, "drumming for one to many percussionists"), is that it remains the same piece, regardless of whether it is played pianissimo or forte, no matter which tempo between 30 and 120 b.p.m is used. or what order of pages the players select. Different versions take on very different "expressive qualities". To me, it seemed very important for my development to have composed a piece which allows for a strong expressive power, without me as a composer having provided it with expression.

 

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Burkhard Schlothauer

John Cage - Komponist

(Vortragsperformance gehalten im Podewil, Berlin am 5.9.2002 anläßlich des 90en Geburtstages von John Cage)

 

Quelle meines Vortrags ist im wesentlichen das Buch von James Pritchett – „The Music of John Cage“.

 

  Pause

 

Ausgangsthese: John Cage war Komponist. Er war vor allem anderen Komponist, obwohl er auch malte und dichtete und obwohl er sich zur Kunst, zur Musik und zu gesellschaftlichen Fragen sowohl in vielen Interviews als auch schreibend geäußert hat. Dass sich in der Rezeption von Cage der Begriff Künstlerphilosoph etablieren konnte, liegt daran, dass die Musikkritiker seiner Zeit nicht damit zurechtkamen, dass er für künstlerische Detailentscheidungen Zufallsoperationen heranzog. Wenn der Komponist den Prozess des Komponierens verobjektiviere – so die Argumentation damals -und einen Teil der Entscheidungen aus der Hand gäbe, wie Cage dies in seinem Werk seit 1959 getan hatte, habe er damit auch die Berechtigung verloren, sich als Komponist bezeichnen zu können. Die Berufsbezeichnung Komponist sei ihm nicht mehr zu zugestehen. Fundierte Kenntnisse über Musik waren Cage aber dennoch nicht abzusprechen. So erfand die Presse den Begriff des Musikerphilosophen. Diese Missdeutung hat - unter anderen - dazu geführt, dass Cages Werk bis heute von vielen Musikern und Kritikern nicht in dem Maße rezipiert und vor allem angehört wird, wie es es verdient hätte.

 

  Pause

 

Mit 18 Jahren -1930 - verließ John Cage das College und reiste nach Europa, um sich künstlerisch zu orientieren. Er hatte in seiner Schulzeit privaten Klavierunterricht gehabt und sich vor allem für die Musik von Edward Grieg begeistert. In Europa kam er in Kontakt mit moderner Kunst und Musik. Er war unentschieden, was er werden wollte: Komponist, Maler, Tänzer, oder Schriftsteller.

 

  Pause

 

Über seine ersten Kompositionsversuche schreibt er selbst:

ich kann mich nicht gut an meine ersten Kompositionsversuche erinnern. Ich weiß nur noch, dass sie keine sinnliche Wirkung hatten und keine Ausdruckskraft.

Diese Äußerung von Cage belegt, wie viele andere seiner Aussagen, dass sinnliche Wirkung und Ausdruckskraft ihm wichtig waren.

Zurück in den USA kam er über den Pianisten Richard Buhlig mit dem Werk Schönbergs in näheren Kontakt. Buhlig war einer der wenigen Pianisten in Amerika, die damals das Werk Schönbergs spielen konnten. Als Cage mit Buhlig in Kontakt kam, gab er malen und schreiben auf und widmete sich immer stärker der Musik. Cage zeigte Buhlig seine Kompositionen. Diese waren kontrapunktisch entwickelt und an Schönberg orientiert. In den vereinigten Staaten der dreißiger Jahre fühlten viele Komponisten, Cage eingeschlossen, dass sie sich zwischen dem Neoklassizismus Igor Strawinskys oder Schönbergs Zwölftonstil zu entscheiden hatten. Die Sonate für Klarinette von 1933 ist ein typisches frühes Beispiel für diese Kompositionsweise: der Stil ist chromatisch, rhythmisch komplex und unmetrisch. Cage benutzt kurze Motive die er wiederholt und variiert. Ich habe das Werk beim Hören als sehr frisch und authentisch erlebt. Es hat eine sehr individuelle Qualität.

Buhlig hingegen kritisierte die Formlosigkeit von Cages frühen Werken und unter diesem Einfluss führte Cage verschiedene organisatorische Methoden in seiner Musik ein, um seine Klänge einem übergeordneten Plan unterordnen zu können. Die Organisation der Tonhöhen wirkt seriell, mit Sicherheit aber liegen den Kompositionen keine im traditionellen Sinne seriellen Pläne zu Grunde.

Cage selbst sagte über die Werke dieser Zeit: was ich schrieb, klang zwar organisiert, aber es war nicht angenehm zuzuhören.

 

  Pause

1933, nach drei Jahren Zusammenarbeit, war Buhlig nicht länger in der Lage, Cage bei seinen Kompositionen zu helfen. Er empfahl ihn an Henry Cowell, der zu dieser Zeit in San Francisco arbeitete. Henry Cowell war m. W. der erste Komponist, der Klänge inside des Pianos erzeugte und dies in Kompositionen konsequent einsetzte. Cage sandte Cowell einige Partituren, woraufhin die oben erwähnte Sonata for Clarinet von 1933 in Cowells Neue Musik Workshop aufgeführt werden sollte. Dabei passierte Cage dasselbe, was vielen jungen Komponisten passiert: Am Konzerttag stellte sich heraus, dass der Klarinettist das Stück nicht geübt hatte und es nicht spielen konnte. Cage führte es daraufhin selbst am Piano aus. Trotz dieses Aufführungsproblems fand Cowell Interesse an Cages Werk und empfahl ihm nach New York zu gehen und dort bei Adolf Weiss, einem Studenten von Arnold Schönberg zu studieren. Die Idee war, dass Cage zu guter letzt so weit sein sollte, bei Schönberg selbst studieren zu können. Cowells Anerkennung und Unterstützung erleichterte es Cage, sich eine Zukunft als professioneller Komponist vorstellen zu können.

 

  Pause

 

Von 1934 bis 1937 war Cage von seinen Kompositionsstudien voll beansprucht. 1935 kehrte er nach Kalifornien zurück, um dort bei Arnold Schönberg zu studieren. Seine Studien dauerten zwei Jahre und bestanden aus Kompositionsunterricht in Kleingruppen bei Arnold Schönberg zu Hause und aus Kontrapunktklassen, die Schönberg in der University of Southern California und an der UCLA abhielt. Man kann Cage nicht wirklich als Schüler Schönbergs bezeichnen, denn er hat nur für eine relativ kurze Zeit bei ihm studiert und nach 1938 kein Werk geschrieben, das auch nur entfernt an eins von Schönbergs Werken erinnert. Schönberg war für Cage eher ein Rollenvorbild, seine Hingabe an die Musik steckte Cage an. Cage verehrte Schönberg und fürchtete ihn gleichzeitig.

Cage hat bei Schönbergs 12-Tontechnik nie Anleihen genommen. Er hat seine eigene Methode entwickelt, Reihen zu verwenden. Er brach die Reihe in kleine Motive oder Zellen, jede Einzelne mit einem besonderen rhythmische Profil, wiederholte und verwandelte diese Zellen, wobei er ein paar einfache, selbstgewählte Regeln befolgte. Er verwendet wechselnde Metren, verschiedene rhythmische Teilungen, seine Klänge sind dissonant. Cages musikalisches Denken war außerordentlich stark rhythmisch geprägt.

 

 

  Pause

 

1938, im Alter von 26 Jahren, wurde Cage als Komponist, Percussionlehrer und Klavierbegleiter für die Tanzabteilung an der Cornish School in Seattle angestellt.

 

Percussionensembles

Ich glaube, schrieb John Cage in einem Credo genannten Vortrag, den er 1937 oder 1938 in Seattle gehalten hat, dass der Gebrauch von Geräuschen in der Musik sich fortsetzen und steigern wird, bis wir eine Musik erreichen, die mit Hilfe von elektronischen Instrumenten alle hörbaren Klänge für eine musikalische Verwendung verfügbar machen wird.... Wenn in der Vergangenheit Konsonanz und Dissonanz im Zentrum des Diskurses standen, so werden in naher Zukunft diese Auseinandersetzungen zwischen Geräuschen und so genannten musikalischen Klängen stattfinden.

Eine gewissermaßen prophetische Aussage, die sich weitgehend bewahrheitet hat

Demselben Vortrag entstammt auch ein anderes Zitat: wenn dieses Wort "Musik" so heilig ist, dann können wir es vielleicht durch einen bedeutungsvolleren Term ersetzen: Organisation von Klang.

In Cages damaliger Vorstellungswelt war ein Komponist vor allem Erfinder neuer Klänge und neuer Instrumente und für diese neuen Klänge und Instrumente hatte er notwendigerweise neue Formen und Methoden der Komposition zu entwickeln. Cage interessierte sich vordringlich für Percussionmusik - die Musik der Geräusche - und sah die Komposition von Percussionstücken als seine vordringliche Aufgabe als Komponist. Mit Percussionmusik hatte er seine ersten Erfolge als Komponist.

Er hatte 1938 an der Cornish School ein Percussionensemble gegründet. Sein Werk erreichte langsam ein immer größeres Auditorium und Cage weitete seine Aktivitäten aus. Cage versuchte ein Center für experimentelle Musik einzurichten. Er nahm Kontakt mit den Metro Goldwyn Mayer Studios auf, und versuchte sie dafür zu begeistern, experimentelle Komponisten bei sich arbeiten zu lassen. 1942 zog er nach New York, wo er im selben Jahr sein Einstandskonzert gab. Die Presse berichtete darüber. Seitdem war Cage für die New Yorker Presse eine feste Größe. 1947 schrieb der New York Herald Tribune, dass das Feld der Percussionmusik komplett von John Cage besetzt sei. Wie kam Cage dazu Percussionmusik zu komponieren? Wie kam er von dissonantem Kontrapunkt 1938 zu neuen Sounds in 1939? Eine Geschichte berichtet von einer Begegnung mit Oskar Fischinger, einem abstrakten Filmemacher.

Oskar Fischinger erzählte mir von dem Geist, der dem Material inhärent ist, und er behauptete, dass ein Klang, der auf Holz erzeugt wird, einen ganz anderen Charakter hat als einer, der auf Glas erzeugt wird. Am nächsten Tag fing ich an Percussionmusik zu schreiben.

Die Idee der Nur-Percussionmusik, des reinen Percussionorchesters ist keine originäre Idee von Cage, sie entsprach dem Zeitgeist und ist auch bei anderen Komponisten, wie Varese und Cowell zu finden. Außerdem entsprach sie den Anforderungen seines neuen Jobs als Percussionlehrer und Begleiter des Tanzdepartments.

 

 

  Pause

 

Zu Beginn seiner Kompositionstätigkeit nutzte Cage auch für die Konstruktion seiner Percussionstücke Serien von rhythmischen Zellen. In den Jahren nach 1938 entwickelte Cage dann seine Kompositionsmethode der Zeitstrukturen, die er bis zu seinem Lebensende weiterverfolgte. Cage hatte am College Musik für die Tanzbegleitung zu komponieren. Diese Stücke schrieb er zumeist erst dann, wenn die Choreografie fertig war. Der moderne Tanz der 30er Jahre scheint unter dem Einfluss des Ballet Russe und Igor Strawinskys Rhythmik gestanden zu haben. Auf jeden Fall hatte Cage oft Percussionstücke mit wechselnden Metren nach den rhythmischen Bedürfnissen der Tänzer zu liefern. Die kompositorische Struktur war ihm komplett von der Choreografie vorgegeben - eine Situation die er zunehmend inakzeptabel fand.

Die durch die Choreografie vorgegebenen Zahlen waren fast immer - von einem musikalischen Standpunkt aus betrachtet - vollkommen unbefriedigend in ihrer Organisation.... Ich glaube diese Unordnung führte mich zur Einführung vom strukturellen Rhythmus.

 

 

Ein zweiter Anstoß für die Organisation von Musik in rhythmischen Strukturen ergab sich aus

der Natur der Percussionklänge, mit denen er arbeitete. Viele dieser Klänge haben keine klare Tonhöhe: es ist folglich nicht möglich musikalische Struktur auf Grund von tonhöhenabhängigen Parametern wie Harmonie oder Melodie zu entwickeln. Cage stellte fest, dass Percussionklängen eine Autonomie der Dauer zu eigen ist. Keine menschliche Kraft kann den Sounds zum Beispiel eines Woodblocks länger dauern lassen, als er von Natur aus dauert. Diese immanente Dauer des Percussionklangs schien Cage das entscheidende Merkmal dieser Instrumente zu sein. Insofern erschien es ihm logisch, dass die Dauer die Basis für die Struktur seiner Percussionmusik sein sollte. Diese Meinung vertrat er in den folgenden Jahren sehr entschieden. Er hielt etwa 20 Jahre an dieser Idee fest und erforschte ihre Möglichkeiten.

Für mich ist die Entdeckung sehr entscheidend, dass dem von einem Instrumentalisten erzeugten Klang eine gewisse natürliche Dauer in einer bestimmten Bandbreite immanent ist und dass diese immanente Dauer, also gewissermaßen die physikalische Natur, die Beschaffenheit des Klanges auf die Struktur des Stückes einwirkt.

Meine ästhetische Haltung hat nichts mit dem Verlangen nach Selbst-Ausdruck zu tun, sondern ganz einfach mit der Organisation von Material. Ich bemerkte, dass es unvermeidlicherweise zwei Arten von Ausdruck gab: denjenigen der aus der Persönlichkeit des Komponisten rührte und denjenigen der aus der Natur und aus dem Zusammenhang des Materials entstand. Ich empfand den Ausdruck als stärker und feiner, wenn ich mich nicht darum bemühte Ausdruck bewusst erzeugen, sondern ihm ermöglichte auf natürliche Weise zu entstehen.

In Cages Percussionsstücken den Constructions von 1940 versuchte er eine strukturelle Ordnung der Komposition durch zu Grunde gelegte Zahlen herzustellen. First Construction (in Metal) von 1940: 6 Spieler, jeder Spieler hat 16 Klänge, der erste Spieler hat ein Instrumentarium von 16 Glocken, 8 Ambossen, vier chinesische Becken, usw. Im Stück werden 16 rhythmischen Zellen oder Motive verwendet, die in vier Kreisen von jeweils vier Motiven geordnet sind. Solcherlei Zusammenhänge finden sich in vielen Stücken, die Cage damals geschrieben hat.

 

  Pause

Das präparierte Klavier

Cage hat zehn Jahre lang hauptsächlich Percussionmusik komponiert. Percussionstücke erzeugen spezielle Logistikprobleme: es sind viele Instrumente zu transportieren und man benötigt verhältnismäßig viel Platz auf der Bühne. Als einmal für eine Tanzproduktion nur eine sehr kleine Bühne zur Verfügung stand, versuchte Cage perkussive Klänge inside des Pianos, nach dem Vorbild von Henry Cowell zu erzeugen. Er experimentierte und kam darauf, dass sich Gegenstände auf und zwischen den Seiten anbringen ließen, die es ermöglichten das Klavier wie ein Percussionorchester klingen zu lassen. Die Präparierung eines Klaviers ist nicht unkompliziert: schwere Objekten addieren Masse zur schwingenden Seite und machen diese tiefer. Objekte die zwischen die Saiten gesteckt werden, dehnen die Seite und machen sie dadurch höher. Ein weiteres Problem ist, dass die Tonhöhen des mittleren und hohen Registers auf dem Klavier durch drei Saiten dargestellt werden. Ein Gegenstand der zwischen zwei Seiten geklemmt wird, führt dazu, dass zwei Seiten präpariert sind die dritte unpräpariert verbleibt und in der Folge Schwebungen entstehen. An Schwingungsknoten der Saiten ergeben sich Flageoletttöne. Die entstehenden Klänge sind komplex, nicht harmonisch, mikrotonal und klingen percussionähnlich.

Cage entwickelte das präparierte Klavier 1940 und schrieb von 1942-1948 eine große Anzahl Stücke dafür. Das präparierte Klavier übernahm in seinem Werk die Rolle des Percussionensembles. Allerdings veränderte sich mit dem präparierte Klavier der Ausdruck seiner Musik. In den Percussionstücken hatte Cage nach großen Effekten gesucht, in allen Constructions gibt es irgendwo einen donnernden Moment.

In den Werken für präpariertes Klavier führt die Verwendung eines Soloinstruments zur Betonung des linearen, melodischen, das entweder allein erklingt oder mit einer einfachen Begleitung. Die Rhythmen werden einfacher und flüssiger. Während die Percussionstücke eine große Palette von dramatischen Effekten verwendeten, strebt die Musik für präpariertes Klavier nach Intimität und persönlichem Ausdruck. Der Artikel von 1944 Grace and Clarity, was so viel wie Anmut und Klarheit bedeutet ist eine Stellungnahme für Cages neue lyrische Ästhetik.

 

  Pause

 

Cage war ehrgeizig: er wollte immer noch ein Center für neue Musik gründen und er schrieb riesige Partituren für Radio Soundeffekte die so komplex waren, dass fast unmöglich war sie zu realisieren.

 

  Pause

 

Die mittleren 40er Jahre waren für Cage eine schwierige Zeit. In manchen Kreisen waren seine Werke wohlbekannt, aber die Mehrheit der Musiker und Konzertbesucher in New York nahm ihn nicht zur Kenntnis. Wenn sie nicht offen feindlich waren, dann behandelten sie die ganze Sache als eine Art von Witz. Cage vermittelt im folgenden Zitat welche größeren Zweifel diese Probleme im ihm erzeugten:

Ich hatte eine große Menge von Gefühlen in das Stück gegossen und offensichtlich konnte ich all das nicht kommunizieren. Oder andersherum: wenn ich kommunizierte, dann musste es so sein dass alle anderen Künstler eine vollkommen andere Sprache sprachen. Die ganze musikalische Situation kam mir mehr und mehr vor, wie das babylonische Sprachgewirr am Turm zu Babel.

Zu diesem Zeitpunkt begann Cage, deprimiert und desillusioniert, unter Anleitung einer indischen Musikerin mit dem Studium der indischen Philosophie. Gita Sarabhai , nach Amerika gekommen um westliche Musik zu studieren, kam zu Cage um Stunden in Kontrapunkt und zeitgenössischer Musik zu nehmen. Sarabhai gab ihm das Buch „The Gospel of Sri Ramakrishna“, ein Buch das in Cages Worten den Platz der die Psychoanalyse einnahm. Ramakrishnas Botschaft vom nichtgebundenen Leben in der Welt wurde eine Art von Therapie für Cage und in der Folgezeit drang er tiefer in östliches Denken ein. Aldous Huxleys Werk „The perennial Philosophy“ führte Cage in die Literatur des Zen Buddhismus ein und brachte ihm Meister Eckart, Chuang Tze, Huang Po und Lao Tse näher. Während diese Bücher Cages Denken für ein spirituelles Herangehen an die Welt öffneten, hatte das Buch von Ananda K. Coomararswamy - The Transformation of Nature in Art und the Dance of Shiva - den grössten Einfluss auf sein musikalisches Denken. Von grundlegender Wichtigkeit schien ihm die Idee von der Verbindung von Kunst und Spiritualität. Coomararswamy präsentiert Kunst als Kontemplation des Absoluten , als eine Art von Yoga. In „Transformation of Nature in Art“ schreibt Coomararswamy: Kunst ist Religion, Religion Kunst, nicht verbunden, aber das gleiche. Diese Sicht der Kunst als eine spirituelle Disziplin findet ihre Entsprechung in Cages neuer Formulierung des Zweckes von Musik: To sober and quiet the mind thus rendering it susceptible to divine influences (den Geist ernüchtern und beruhigen und ihn dadurch empfänglich für göttliche Einflüsse machen.)

 

  Pause

Zitat Cage: jeder von uns muss jetzt auf sich selbst achten. Das was uns früher zusammenhielt und unseren Eroberungen Sinn gab, war unser Glaube an Gott. Als wir diesem Glauben erst auf Helden und dann auf Dinge übertrugen, begannen wir unsere eigenen Wege zugehen. Diese Insel, auf der wir vor der Einwirkung der Welt zu entkommen versuchen, liegt, so wie's immer war, mitten in uns, in unseren Herzen.

1946 komponierte John Cage die Sonatas and Interludes, eine Folge von 20 Miniaturen. Die Kleinteiligkeit ergab sich aus seinem Kontakt mit dem Werk des amerikanischen Dichters Edwin Denby. Der Inhalt allerdings wurde von Coomaraswamy indischer Ästhetik angeregt. Cage versuchte in diesen Stücken die „8 ständigen Gefühle und ihre gemeinsame Tendenz zur Ruhe (tranquility)“ auszudrücken. Er hat nicht festgehalten, welches Gefühl er welchem Teil des Stückes zugeordnet hat. Die acht ständigen Emotionen sind folgende: das erotische, das heroische, das ekelhafte, die Wut, die Heiterkeit, die Angst, die Sorge, das Erstaunen.

 

  Pause

 

Unter dem Einfluss dieser Philosophie formulierte Cage, dass Kunst die Natur in der Art ihrer Wirksamkeit, ihrer Art des Arbeitens imitieren solle.

 Burkhard Schlothauer 2002  (Bitte vor Verwendung informieren und Autor nennen)


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Burkhard Schlothauer

MUSIK - ZEIT - LEBEN - RAUM

(in gekürzter Form erschienen in Positionen 2006)

 

‚Klangraum’ im ‚Kunstraum Düsseldorf’

‚Klangraum’ ist das Musikveranstaltungsprogramm von Antoine Beuger im ‚Kunstraum Düsseldorf’. Diese städtische Galerie ist im Erdgeschoß der ehemaligen Maschinenfabrik ‚Jagenberg’ in der Himmelgeister Straße ansässig, einem weiß gekachelten vierstöckigen Fabrikgebäude aus der Gründerzeit, das heute Ateliers und Künstlerwohnungen, ein Cafe,

einen Veranstaltungsort für Jazzkonzerte (Alte Schmiede) und verschiedene Ämter beherbergt. Kunstraum, ein L-förmiger, etwa 5 m hoher Raum, ca. 400 m² groß. Loftatmosphäre, weiße Wände, grauer Zementboden, wenig Wand, der Raum wird durch Fenster dominiert, große bodentiefe zum Hof und kleinere zum rückwärtigen Außenraum, wodurch sich eine offene und transparente Atmosphäre ergibt - auch die Geräusche der hinter dem Gebäude spielenden Kinder und des allgegenwärtigen Straßenverkehrs sind zu hören. Ein metamorphosierter Raum, gewandelt von einer Produktionshalle - einem Arbeits- und Zweckraum, gefüllt mit Maschinen und Menschen, aus dem die Laute des Arbeitens nach außen dringen - zum leeren Raum für die Kunst, zu einem Raum in dem das Außen klingt, der von Außen einzusehen, offen und durchlässig ist. Keineswegs ein ‚idealer’ Raum, weder für Konzerte noch für bildende Kunst. Ein klarer einfacher Raum, akustisch einer kleineren Kirche vergleichbar. Ein schöner schlichter Ort, der aufgrund seines Grundrisses und seiner akustischen Gegebenheiten spezielle Anforderungen an die Veranstalter und Aussteller stellt, der als Ort Berücksichtigung fordert, in die Konzeption eines Ereignisses einbezogen werden muss, eben der Ort, an dem sich mit dem ‚Klangraum’ eine Kultur der Besinnung und des Innehaltens präsentiert.

 

Programm als Metastruktur

An diesen Ort hat Antoine Beuger mit inzwischen ständiger Unterstützung des Kulturamtes der Stadt Düsseldorf und projektbezogener Förderung durch die Kunststiftung NRW, seit Oktober 1994 weit mehr als 250 Konzerte und verwandte Ereignisse ‚installiert’. Ermöglicht wurde dies trotz des für den Umfang der Veranstaltungen allzu kleinen Budgets durch das enthusiastische Engagement Beugers und der beteiligten Künstler. Hier sind stellvertretend für viele andere zu nennen: John Mc Alpine, Clemens Merkel, Tobias Liebezeit, Normisa Pereira da Silva, Bartonworkshop und James Fulkerson, das Ensemble QO2, das Quatuor Bozzini.

Wer Beugers Musik kennt, weiß, dass er seine zweite Schaffensphase nach 1990 vorwiegend der experimentellen und geistigen Auseinandersetzung mit John Cages Stück 4’33’’ widmete: wie kann Komponieren sich entwickeln, wenn man 4’33’ als Werk / Nichtwerk ernst nimmt und die unmittelbaren und mittelbaren künstlerischen Konsequenzen auslotet? Wie ändert sich musikalisches Denken, setzt man sich mit den verschiedenen Erscheinungsformen von Stille, als auch mit der radikal nichtintentionalen Haltung des Komponisten auseinander? Der Erforschung solcher kompositorischer Fragen – seit 2002 auch zunehmend der Musik mit stehenden Klängen - ist auch die Konzertreihe ‚Klangraum’ in bewundernswerter Geschlossenheit und Stringenz gewidmet. Das macht die Konzertreihe selbst zu einem ständig wachsenden ‚Werk’, einer Forschungsreihe, die abseits dessen, was in den Kulturinstitutionen als „Neue Musik“ präsentiert wird, eine gänzlich eigenständige Sicht auf die Musik der Gegenwart eröffnet. Musikalisch stehen die Kompositionen John Cages und seiner Wegbegleiter (wie z.B. Christian Wolff und Alvin Lucier) ebenso im Zentrum der Veranstaltungen wie die seiner ‚Nachfolger’, von denen sich etliche in der Komponistengruppe Wandelweiser versammelt haben: Michael Pisaro, Radu Malfatti, Antoine Beuger, Jürg Frey und andere.

Die Verortung an der Peripherie und die kompromisslose Anerkennung der homogenen Konsequenz der Veranstaltungsreihe durch das Kulturamt der Stadt Düsseldorf ermöglicht eine Freiheit zur programmatischen Beschränkung, eine mittlerweile zehnjährige Metastruktur von musikalischen Ereignissen, von der jeder Festivalmacher nur träumen kann. Abseits der Frage nach Publikumswirksamkeit wird hier beharrliches experimentelles Arbeiten gefördert: So wurde z.B. bislang weitgehend unbekannten KomponistInnen wie Eva-Maria Houben oder André O. Möller die Möglichkeit gegeben, ein umfangreiches Konvolut ihrer Arbeiten zur Aufführung zu bringen. Anlässlich der seit dem Jahr 2000 bereits sieben mal durchgeführten Komponistenwochen „Wandelweiser in Residence“, treffen Komponisten und Musiker zusammen, proben, sprechen und konzertieren gemeinsam.

Einen besonderen Schwerpunkt des Klangraumprogramms stellen Veranstaltungen dar, die den gängigen Zeitrahmen einer Konzertveranstaltung sprengen.

 

Zeit - Kunst

Schon Arnold Schönberg meinte in seiner Harmonielehre von 1911, dass der Tonhöhe in der Musiktheorie und in der kompositorischen Praxis ein zu großer Anteil der Aufmerksamkeit gegolten habe. Der Serialismus erhob andere Parameter zur Gleichrangigkeit und verlor sich dadurch in Überdifferenzierung. Für eine neue kompositorische Systematik wurde eine grundsätzlichere Fragestellung erforderlich und eine Fokussierung auf einen beliebigen anderen Parameter von Musik als die Tonhöhe hätte nur eine Verschiebung des Problems bewirkt. Als ‚Essentialisierung’, als verallgemeinernde Möglichkeit bot sich an, die Musik vordringlich als Zeitkunst zu denken, als Kunstform, die im wesentlichen sich mit der Gliederung von Zeit beschäftige, sowohl einen Zeitraum als auch einen Zeitverlauf schaffend, einen Zeitabschnitt aus der Totalität des ‚Zeitenlaufs’ herausstellend, ihn dadurch in Wirklichkeit erst kreierend. Neu ist dabei nicht, dass Musik eine Kunst in der Zeit ist - das ist sie schon immer - sondern die Fokussierung des musikalischen Denkens auf die Zeit als vordringliche und bestimmende Kategorie. Malerei war immer die Kunst des Zweidimensionalen, aber erst seit Ende des 19.Jahrhunderts wird diese Zweidimensionalität thematisiert, indem auf illusionistische Tricks verzichtet und das ‚Darstellen’ hinter das ‚Sein’ zurücktritt. Durch Verzicht wird deutlich, was Malerei auf einer abstrakteren Betrachtungsebene wesentlich ist: die Beschichtung einer Fläche mit farbigem Material. Monochrome Beschichtungen ermöglichten wiederum die Erkenntnis, dass jeder Bildträger und jedes aufgetragene Material auch eine räumliche Dimension einnimmt, dass sowohl Farbe als auch Material ihre jeweils eigene ‚Sprache sprechen’.

John Cage ordnete die Frage nach der gemessenen Gesamtdauer eines Stückes häufig allen anderen kompositorischen Entscheidungen vor. Zeit als wesentliche Kategorie von Musik gedacht, befördert die folgenden Fragen: Was unterscheidet die Zeit vor der Musik von der Zeit, in der Musik stattfindet? Wie ist das Danach? Wie gestalten sich die Übergänge von Musik und Nichtmusik? Was macht Musik aus: Ereignis oder Nicht-Ereignis, Klang oder Stille? Gleichzeitig brachte die Fokussierung der Musik auf die Zeit als übergeordnete Kategorie die Erkenntnis, dass potentiell jeder Klang und jede Klangfarbe im musikalischen Kontext verwendbar ist, und dass sie, als das, was sie für sich stehend sind, Beachtung verdienen.

Wenn eine der wesentlichen kompositorischen Entscheidungen die über die Gesamtdauer des Stückes ist, liegen Versuche mit wesentlich längeren Zeitabschnitten bereits im experimentellen Gesichtsfeld. (Im übrigen auch mit wesentlich kürzeren – hier sei auf Kunsu Shims sensationelles 3-5 Sekunden langes Chamber Piece No.1 verwiesen).

Carlo Inderhees hat mit seiner konzeptionellen Konzertreihe ‚3 Jahre – 156 Musikalische Ereignisse – Eine Skulptur’ (Skulptur: Christoph Nicolaus) von 1997 bis 1999 eine kollektive Klangkonzeption verwirklicht, die weit über die Maße bisher realisierter kompositorischer Zeiträume hinausreichte. Jeweils zehnminütige Solostücke von verschiedenen Komponisten wurden mit einem Einsatzabstand von 168 Stunden (= 1 Woche) jeden Dienstag um 19.30 Uhr in der Berliner Zionskirche aufgeführt. Als erste derartig groß angelegte Veranstaltung wurde im Klangraum zwischen dem 12.7.2001 – 4.8.2001 ebenfalls eine Arbeit von Inderhees und Nicolaus aus dem Jahr 1999 wiederaufgeführt: ‚garonne (24) für sich’. An 24 Tagen gelangt alle 25 Stunden ein einstündiges Werk für Solocello zur Aufführung, in dem jeweils Pause und Klang symmetrisch gleich verteilt sind, von Stück zu Stück in wechselnder Periodizität. Auch das Klangmaterial ist sehr fragil und leise - jeweils ein bestimmter Multiphonic pro Konzert. Parallel dazu sind auf Videomonitoren ungeschnittene Nahaufnahmen der fließenden Wasseroberfläche von Flüssen zu sehen. Da das Werk in seiner Gesamtheit bereits von Volker Straebel in der Nummer 38 dieser Zeitung sehr präzise und erhellend beschrieben wurde, muss ich auf Einzelheiten hier nicht eingehen. Auf den besonderen Aspekt der ‚Lebenszeitnahme’, der Wechselwirkung von Lebens-/Biorhythmus und Musik möchte ich dennoch kurz verweisen. Einen derartig großen Zeitabschnitt – 24 Tage – für die Musik zu beanspruchen, stellt eine wirkliche Konkurrenz zu anderen Bereichen des Lebens dar: Musikzeit nimmt Lebenszeit, sie verschmilzt mit Lebenszeit. Nimmt die Musik Zeit an Stellen die im Leben für andere Tätigkeiten oder für Schlaf reserviert sind, dann greift die Zeitnahme ins Leben ein und verändert es. Unterhaltende Musikveranstaltungen werden im Gegensatz dazu den Lebensgewohnheiten der Menschen einer bestimmten Gesellschaft angepasst – sie finden bei uns vordringlich abends statt, in der Zeit zwischen 19.30 und 22 Uhr, in der Zeit, die in der begrifflichen Einteilung der Lebenszeit die Bezeichnung ‚Frei’ gewonnen hat. Die Teilnahme an einem dreiwöchigen Ereignis mit sich verschiebenden Veranstaltungsblöcken wie ‚garonne (24) für sich’ hingegen, , greift in den Takt des Lebens ein und lässt den Biorhythmus merken : Sie verändert - wie auch immer - das Leben selbst.

 

Zwei andere dreiwöchige Ereignisse im Klangraumprogramm verdienen aber als Beispiele für eine neue Sicht auf Zeit und Raum in diesem Zusammenhang eine genaue Beschreibung.

 

Ausstellungsperformance

Am I really here or is it only art?[1]

Der Maler, Installations- und Performancekünstler, Cellist und Komponist Marcus Kaiser (*1967) veranstaltete von 3.8.2003 bis zum 23.8.2003 sein ‚OPERNFRAKTAL 21 TAGE’ im Kunstraum. Kaiser, dessen gesamtes Oeuvre eine komplizierte und tiefsinnige Verschränkung der verschiedenen Kunstgattungen, in denen er zu Hause ist, darstellt, und dessen Lebensort auch Atelier und Veranstaltungsraum für die von ihm initiierte Reihe ‚Kaiserwellen’ ist, nannte viele seiner früheren akustischen Arbeiten, ‚Klanginstallation mit Instrumenten’. Häufig spielt bei diesen Ereignissen die Tonaufnahme einer festgelegten musikalischen Aktion eine Rolle, die dann bei späteren Wiederholungen der musikalischen Aktion am selben Ort, oder je nach Konzept auch einem anderen, wieder eingespielt und erneut in Kombination mit der gegenwärtigen Aktion aufgenommen wird. Es öffnet sich somit ein mehrdimensionaler Zeitraum im Klangraum, das was gestern, vorgestern war, hat seine Spuren hinterlassen und wird im Jetzt verknüpft und erinnert, umso schemenhafter, je weiter es zurückliegt. Der klingende Raum, die Aufnahme und Abspieltechnik verändern, filtern, verrauschen und fügen zusammen, erzeugen eine Projektion der Orte und Zeiten des Geschehens in einer eigenartig diskontinuierlich kreisenden Weise.

Da die Projektbeschreibung von ‚OPERNFRAKTAL 21 TAGE’ sehr klar formuliert und aussagekräftig ist, möchte ich sie hier weitgehend unverändert wiedergeben:

„Im gegebenen Zeitraum wird dieser Ort von vier Personen bewohnt, die gegebene Aufgaben übernehmen (Zeichner / Computer-Tontechniker / Instrumentalist / Koch / Sprecher...) und auch ihren privaten Tätigkeiten nachgehen.

Von den konkreten Klängen des Ortes, der Umgebung und der Menschen wird alle 5 Minuten 1 Minute aufgezeichnet und am nächsten Tag zur selben Zeit wieder abgespielt (und wieder aufgezeichnet...). So entsteht im Laufe der Zeit eine computergesteuerte wuchernde Klangmassierung (abgewechselt mit Stille), die sich mit den real vorhandenen Klängen vermischt, bzw. sich ihnen anschmiegt. Jeden Tag gibt es zu bestimmten Zeiten (6 Uhr / 12 Uhr / 18 Uhr / 24 Uhr) instrumentale bzw. mit der Stimme artikulierte Zwischenspiele (als "Konzert im Konzert"), die sich zunehmend in die durchgehende Struktur der konkreten Klänge einweben. So entsteht nach und nach eine "Oper", die keine Oper ist, eine nichtinszenierte Inszenierung, eine reale Situation, die nicht realistisch ist, ein Vivarium.

"OPERNFRAKTAL" ist ein Zustand eingebunden in Architektur/Installation und Tätigkeit/Handlung und Klang/Dauer im Sinne von "Chronotektur"; wie ein Aquarium ausschnitthaft ungenügend ein Stück Amazonas oder ein Stück Tanganjikasee nachbildet und den Fischen einen wirklichen Lebensraum bietet. Ausgehend von einigen Grundelementen ist die Situation offen und kann sich verschiedenen Gegebenheiten anpassen...“

Im einrichtungsfreien Kunstraum markierten vier offene ‚Metallwinkelkuben’ mit den Maßen 1,50*2,80*1,50 die vier Funktionsräume: ‚Küche/Bar’, ‚Kommunikation/Modell’ (in diesem Quader befand sich ein auf die Aktion bezogenes Architekturmodell), ‚Elektronik/Arbeit’. Im vierten, ‚Intuition/Klang’ genannt, nahm der Instrumentalist zur Durchführung der alle sechs Stunden stattfindenden Konzerte Platz. Zusätzlich gab es noch zwei Holzboxen von 2m*2m*2m aus OSB- Platten als nicht einsehbare Schlafwürfel und zwei große Zeichnungen im selben Maß, wie die Frontflächen der Aktionsquader (1,50*2,80), die ganzflächig wuchernde Urwaldvegetation zeigten. Aus Holz speziell angefertigte Fotoboxen im Format DIN A4 waren zur Anfang der Aktion als Leergut skulptural übereinander gestapelt, wurden Tag für Tag mit den abgezogenen Digitalfotos des vorherigen Tages gefüllt und dann auf dem Boden zur Ansicht aufgestellt, überwucherten also den Boden mehr und mehr. In Marcus Kaisers Kunstauffassung spielt die Verschränkung von Zeit und Raum, für die er den Begriff „Chronotektur“ geschaffen hat, eine bedeutende Rolle. Normale Musik versuche, so Kaiser, Zeit zu eliminieren und Langeweile als Bewusstwerdung vom Vergehen der Zeit zu vermeiden. Chronotektur versuche hingegen Zeit und Raum ineinander greifend zu gestalten. Bilder würden eher Zeit repräsentieren als Musik, Musik sei im Normalfall eher statisch und bewegungslos wahrzunehmen, das Ohr ein passives Organ, das Auge im Gegensatz dazu wesentlich freier und beweglicher, es wandere über das Bild, es nehme sich selbst bewegend, somit Zeit verbrauchend wahr.

21 Tage lebten, arbeiteten und performten die vier Mitwirkenden im Kunstraum, die Grenzen ihrer Tätigkeiten verflossen; ihre Anwesenheit war nicht verpflichtend, immer aber war mindestens einer der Akteure anwesend. Zum Leben, Essen und zur Übernachtung im ‚Vivarium’ war das Publikum ebenfalls eingeladen. Kaiser geht es nach eigener Aussage darum, Alltäglichkeiten wie z.B. Nahrungsaufnahme und Ruhen, nicht aus dem Kunstereignis herauszudrängen. Durch die Vorgabe der Gesamtzeit der Performance war dies zwangsläufig gewährleistet, denn bei einem Event dieser Dauer muss das physische Leben und die auftretenden Probleme des Miteinanderlebens im Sinne einer kompositorischen Konzeption voll integriert sein. Denn im Gegensatz zum Konzertritual, indem der Künstler durch schwarze Einheitskleidung und Podiumsstellung entprivatisiert wird, bleibt jeder Teilnehmer des Opernfraktals in seiner personalen und physischen Beschaffenheit vollumfänglich wahrnehmbar - die Grenzen des Alltäglichen zur Kunst ist Dauerthema. „Die Binnenstruktur des Stückes ist für mich weniger interessant, als seine Peripherstruktur; ich reflektiere eher über ihre Zusammenhänge, wobei ich nicht sicher bin, ob es überhaupt einen Zusammenhang gibt.“

Durch Ritualisierung des Tagesablaufes mit Hilfe der regelmäßig stattfindenden Konzerte brach sich die immer wieder entstehende Alltagssituation und ließ die Künstlichkeit der Situation bewusst werden. Im übrigen diente diese Symmetrie aber auch der Beobachtung von Zeiterfahrung: die jeweils beinahe gleichen Zeitabschnitte von jeweils etwa 6 Stunden zwischen den Konzerten wurden von den Akteuren je nach Tageszeit und vorgenommener Aktivität vollkommen unterschiedlich wahrgenommen.

 

 

Statische Klänge – bewegte Menschen

Einen Zeitraum von 23 Tagen einnehmend, fand die Klanginstallation/Performance/Videoinstallation ‚interferenzen wellenspiele’ von 25.7. bis 15.8.2004 im ‚Klangraum’ den Ort ihrer Uraufführung. Als Urheber und Beteiligte sind vor allem André O. Möller (Komponisition/Obertongesang), Markus Groll (Choreografie/Tanz) und Barbara Siebert (Video/Gesamtregie) zu nennen. An jeweils 5 Tagen der Woche wurde der Kunstraum für jeweils 4 Stunden und 30 Minuten bespielt. Jedes dieser Events war gleichbleibend strukturiert und bestand aus drei 90 Minutenblöcken: elektronische Klanginstallation – Klanginstallation mit Tänzer und Sänger – elektronische Klanginstallation.

Die erste Veranstaltung begann um 11.00 Uhr, jede folgende 1 ½ Stunden später, so dass die Aktionen sich langsam in die Nacht, in die frühen Morgenstunden und wieder zurück in den Nachmittag verschoben. Sechs große Lautsprecher waren auf die volle Länge des Raumes verteilt. Ein Sechskanalsystem übermittelte je einen Sinuston pro Box – jeder Ton hatte somit eine fest im Raum verankerte Quelle. Gleichzeitig waren zwei großflächige Videoprojektionen installiert, die im übrigen bei den nächtlichen Veranstaltungen die einzigen Lichtquellen darstellten. Die erste Projektion zeigte verschiedene vorgefertigte Filme mit Wellenphänomenen. Die zweite Projektion zeigte die Aufnahme einer weißen Wand des Kunstraums. Diese Projektion wurde jeden Tag während der Performance erneut mit allen Veränderungen abgefilmt – ab und zu lief jemand durchs Bild oder der Tänzer war zu sehen - und am nächsten Tag wieder projiziert und abgefilmt. Auf diese Weise zog sie die Zeit zwischen den Ereignissen zusammen und machte mit ihrer Schichtung gleichzeitig auf den Gesamtverlauf aufmerksam.

Tonvorrat aller 23 neunzigminütigen Stücke waren die Teiltöne 2 bis 79 bezogen auf den Grundton 12,5 Hertz, dargestellt als Sinustöne. Aus deren Gesamtmenge wurden mit einem einfachen algebraischen Verfahren die jeweils 12 Töne für jede Komposition ausgewählt. Möller denkt sich Tonhöhe grundsätzlich als Funktion der Zeit, Tonhöhe somit als Metrum, im Zusammenklang entsteht bei Tönen mit reiner Stimmung eine rezipierbare Periodizität. Die Dauer jedes Teiltones wurde aufgrund dieser Überlegungen in bewusst einfacher Analogie in Bezugnahme zu seiner Nummer definiert – so hatte z.B.der 2. Teilton (25 Hz) eine Länge von 2 Minuten, der 79. (987,5 Hz) hingegen eine Länge von 79 Minuten. Höhere Töne waren somit statistisch häufiger vertreten als tiefe. Jeder Ton war mit einem Fade In zu seinem Maximum, das genau in seiner zeitlichen Mitte lag, und einem unmittelbar darauf folgenden Fade Out versehen, wodurch sich die Gewichtung der einzelnen Tonhöhen innerhalb der Klänge laufend veränderte. Da die Klänge zwar deutlich hörbar, aber sehr statisch sind, wurde das Publikum eingeladen sich im Raum zu bewegen - zu Fuß oder mit einem zur Verfügung stehenden Fahrrad. Die sich bewegenden Körper veränderten den Klang und erzeugten Interferenzen, sowohl für die sich bewegende Person als auch für alle anderen Hörer wahrnehmbar. Da jeder Ton seinen Ort in einem bestimmten Lautsprecher hatte und diese weit voneinander entfernt aufgestellt waren, konnte man als Hörer durch die Auswahl seiner Position im Raum in einem gewissen Rahmen die Auswahl und Gewichtung des Klanges selbst bestimmen. Der Hörer wird aus seiner physisch passiven Haltung befreit und kann sich bewegend die Klänge, ihre Schwingungen und Schwingungsknoten explorieren. Die menschlichen Körper und ihre Bewegungen sind Bestandteil der Installation, die Akteure des jeweiligen Mittelstückes beleben durch ihren spielerischen Umgang mit dem Gegebenen den Raum - der Sänger erzeugt Schwebungen, verstärkt Differenz- und Summationstöne und stört durch seine Unvollkommenheit die Reinheit der elektronischen Klänge, der Tänzer erforscht den Raum – und inspirierten manchen aus dem Publikum zu eigenen Aktionen.

Möllers Anliegen ist die Auflösung der Konzertsituation, der Zuschauerbeengung und der institutionalisierten Passivität. Jeder Rezipient kann und muss seinen eigenen Klangraum finden, kann seinen Lieblingsklang bilden, seinen Lieblingston finden, den Anfang und das Ende des Stückes durch Eintreten und Abgehen selbst bestimmen.

Der Konzertraum wird zum Erfahrungsraum in dem sich Tageszeiten spiegeln - in Form von Licht- und Geräuschsituationen. Publikum und Künstler verbringen in einem geregelten Ereignisraum gemeinsame Zeit, sie werden zu Teilnehmern eines Erlebniskontextes, leben gemeinsam in der Musik und verwirklichen dadurch lebendige Kultur.

 

Literaturliste:

Beuger, Antoine: Programm des Klangraums seit 1994 auf www.wandelweiser.de

Kaiser, Marcus: ‚opernfraktal’ auf www.opernfraktal.kulturserver-nrw.de (auch Fotos)

Schlothauer, B: Telefoninterviews mit M.Kaiser und A.O.Möller am 3. und 4.1.06

Straebel, Volker: ‚garonne (24) für sich’ in Positionen Nr.38 (1999)

Straebel, Volker: 3 Jahre – 156 Musikalische Ereignisse – Eine Skulptur’, in Dissonanz #62 (November 1999)

 

[1] Laurie Anderson, zitiert nach Charles, Daniel, S.25

Interview

Über Zeitkratzer, Donaufestival, Leben und Musik